Samstag, 12. August, 16. Etappe, Stans - Sachselnamstag,


... und es regnet auch am Morgen in Strömen. Ich steige am 17. Tag in die klammfeuchten Schuhe und laufe weiter nach Sachseln. Von der Landschaft sehe ich nicht viel. Historisch wertvolle Gebäude lasse ich rechts und links des Weges liegen. Ich kann keinen guten Gedanken fassen. Ich weiß nicht, was alles noch passieren muss, bis ich mich selbst zum Idioten erkläre! Mit den taifungeschädigten Menschen in China oder mit den vom Waldbrand betroffenen Menschen in Galicien muss man Mitleid empfinden, nicht aber mit mir, weil ich die ganze Sch.... freiwillig mache!! Ich bin mit Wut und Trauer erfüllt (wortwörtlicher Tagebucheintrag!). Papst Johannes Paul I. sagte, wer nicht leidet, kann auch nicht heilig werden. Aber ich bin nicht losgezogen, um heilig zu werden. Ich wollte einen guten Übergang in mein Rentnerdasein schaffen. Ich koche. Das hier ist kein GEDANKENSTRICH, das ist Masochismus!

Freitag, 1. September, 34. Etappe, Revel-Tourdan - Saint-Alban-du-Rhône


... Ich beobachte an mir, dass sich in den letzten Wochen meiner Pilgerreise meine Sinne geschärft haben. Während ich noch in der Schweiz meinen Blick fast nur in die Ferne richtete (Wo ist mein nächster Wegweiser?), so entdecke ich nun die Nähe, das Detail, die Schönheit der Natur. Ich empfinde die Farben intensiver als früher; das Gelb der Blumen ist gelber und das Blau blauer. Ich bleibe stehen und schaue mir die Blumen, das Moos, die Flechten, die Pilze am Wegesrand an. Ich erlebe intensiv die Morgendämmerung, den Verlauf des Tages. Ich genieße die Stille in den Kirchen, die Besinnung, die Geborgenheit, auch den Schutz, wenn es draußen regnet. Ich empfinde den Lärm der Städte quälend, vor allem den Autolärm. Die Nase ist empfindlicher geworden. Städte stinken! Ich erlebe gut und böse viel intensiver. Die meiste Werbung ist schon auf den ersten Blick furchtbar verlogen und abstoßend. Ich leide, wenn mir unfreundliche Menschen begegnen, umgekehrt bin ich innerlich tief bewegt, wenn mir Gutes widerfährt.

Samstag, 2. September, 35. Etappe, Saint-Alban-du-Rhône - Saint-Julien-Molin-Molette


... Ich habe mich bemüht, den gestrigen Abend, die Nacht und den Morgen mit dem Ehepaar ganz einträchtig zu verbringen, aber Martin und ich gehen heute lieber unseren eigenen Weg. Der leichtere Rucksack wird heute meinen Füßen gut tun. Frankreichs Obstanbau bietet wieder kostenlos reife Äpfel an. Drei esse ich sofort, drei nehme ich mit. „Ist das in Ordnung?", frage ich mich beim Weiterlaufen. Eigentlich nicht so richtig. Gibt es die Pilgerregel, dass man, wenn man Hunger hat, Äpfel nehmen darf? Aber dann muss man nicht gleich drei zusätzlich in die Tasche stecken. Ich gehe pilgern und nicht hamstern!

An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Von was lebt ein Pilger? Das Frühstück in den Herbergen ist meist sehr einfach. In den kommunalen Herbergen gibt es meistens nichts zu essen, weder morgens noch abends. Manchmal findet man aber eine Küche oder Kochgelegenheit vor, sodass man sich ein Abendessen selbst zubereiten kann. Tagsüber verzehren die Pilger in der Regel ihren eingekauften Proviant. Bei mir gab es mittags auf der gesamten Pilgerreise: Brot, einen Apfel, zwei Tomaten, ein Stück Käse, Wasser. Zusätzlich ein Joghurt, wenn ich es im Einzelbecher kaufen konnte. In fast allen privaten Herbergen bekommt man ein Abendessen. Dieses ist nicht nur gut, sondern auch sehr kommunikativ; denn man sitzt mit den Herbergsleuten am Tisch und erzählt. Hier lernen sich Pilger näher kennen. Man tauscht Erfahrungen aus und manchmal wird ein solcher Abend zu einem richtigen Fest. Gibt es in der Herberge nichts zu essen, bieten Gastwirte ein preiswertes Pilgermenü an. Und in der Regel reicht der Rotwein immer für einen schönen unterhaltsamen Abend!

Sonntag, 17. September, 49. Etappe, Livinhac-le-Haut - Figeac


Wir starten heute zu dritt, nachdem wir uns nach einem guten Frühstück von der netten Wirtin verabschiedet haben. Es ist sehr feucht heute und meine Wäsche ist über Nacht nicht trocken geworden. Ich stopfe sie feucht in eine Plastiktüte und dann in den Rucksack.

Pilgern ist auch ein ewiger Kampf gegen Körpergeruch! Die Kleidung, die man tagsüber trägt, stinkt am Etappenziel. Man geht bergauf und bergab und schwitzt. Ich finde in Anlehnung an Descartes eine unbezweifelbare Wahrheit im „Ich schwitze, also stinke ich". Dieses Gesetz bewirkt, dass ein Pilger nach jeder Etappe seine Wäsche waschen und trocknen muss, wenn er dem Gestank entfliehen will und wenn er nur ein Ersatzstück hat. Denn gelingt ihm das nicht, muss er die feuchte Wäsche am nächsten Tag weitertrocknen, und am Etappenziel des zweiten Tages kommt dann der Point of no Return, der Zeitpunkt ohne Chance auf Umkehr! Sollte die am Vortag gewaschene Wäsche immer noch nicht trocken sein, kann man die getragene nicht waschen, muss also mit der stinkenden Unterwäsche in das Freizeithemd, mit stinkenden Socken in die Freizeitschuhe steigen. Wenn man nicht aufpasst, stinkt zum Schluss der Gürtel, die Freizeitschuhe, die Freizeitwäsche, das Handtuch, die noch feuchte Wäsche, kurzum alles. Ich überlegte bei dem vielen Regen dauernd, wie ich das Problem lösen kann, weil sich sonst die nasse Wäsche oder der Gestank stauen würden! Das Problem wurde auch dadurch verschärft, dass die Franzosen - wie auch schon die Schweizer - nicht heizten. Ein Teufelskreis!

Dienstag, 19. September, 51. Etappe, Cajarc - Vaylats


... Während ich durch eine sehr schöne Landschaft wandere, muss ich ständig an den Traum der letzten Nacht denken. Es war der vierte Traum von meinem früheren Job, von einer, glaube ich, entscheidenden Abnabelungsschlacht:

Der Vorstand plant ein großes Ereignis und ruft den Konzernführungskreis (erste Führungsebene unter dem Vorstand) zusammen. Da das Ereignis für den Konzern bedeutsam ist (Der Traum hat mir allerdings nicht verraten, um was für ein Ereignis es sich handelt), werden auch die ehemaligen, sich bereits im Ruhestand befindlichen, Manager eingeladen. Alle eilen nach Berlin, auch ich. Als ich auftauche, rümpfen der Vorstand und alle Kollegen die Nase. Sie sagen, es gäbe für mich keine Arbeit. Man schneidet mich. Ein schon in Rente gegangener ehemaliger Kollege verhindert mit allen Mitteln, dass ich irgendeine Arbeit bekomme. Dagegen erhalten andere, bereits zur Ruhe gesetzte Kollegen gute Arbeit zugeteilt. Als ich erkenne, dass mein Wunsch nach Arbeit aussichtslos ist, nehme ich meine Sachen und fahre heim.

Deutlicher kann man es nicht gesagt bekommen, dass das Thema Beruf ein für alle Mal erledigt ist! Wenn ich es jetzt immer noch nicht glauben will, bin ich nicht mehr zu retten.

Freitag, 13. Oktober, 75. Etappe, Santo Domingo de la Calzada - Belorado


... Nach der Messe hält der Pfarrer für uns Pilger noch eine Andacht mit Texten in allen wichtigen Sprachen. Einige Zeilen schreibe ich mir ab oder mit. Sein letzter Vortrag war etwa wie folgt: „ERWARTE NICHT, DASS MAN DICH LIEBT, SONDERN LIEBE! BITTE NICHT UM VERGEBUNG, SONDERN VERGEBE!" Ich denke in mich hinein: Keine Vorurteile, kein Zahn um Zahn. „WENN IHR NUR DIE LIEBT, DIE EUCH LIEBEN, WELCHEN DANK ERWARTET IHR DAFÜR? AUCH DIE SÜNDER LIEBEN DIE, VON DENEN SIE GELIEBT WERDEN (LUK 6,32)." Ich denke: Man muss immer zuerst das Positive im Menschen sehen. Das Negative darf nur als Kaffeesatz übrigbleiben, wenn alles Positive abgeschöpft ist. Ja, das ist es, aber es fällt im täglichen Leben so unendlich schwer! Ich kenne doch eine ganze Reihe von Menschen, denen ich „liebend gerne" in den Hintern treten würde, statt sie zu lieben! Da müssen mir Maria de chemins/Virgen de la Calle und der Hl. Jakobus noch etwas behilflich sein. Zum Abschluss merke ich mir zwei Sätze aus einem längeren Text des Pfarrers: „WENN IHR EUREN WEG GEGANGEN SEID, SOLLT IHR STERNE SEIN. IHR SOLLT LEUCHTEN IN DER FINSTERNIS." Das hatte mir in etwa auch Thérèse in Miradoux in meinen Pilgerpass geschrieben. Aber wie soll ich leuchten, wenn ich Lukas 6.32 noch nicht verinnerlicht habe; d.h., theoretisch verstanden schon, aber noch nicht richtig lebe? „DENN WIE DER KÖRPER OHNE DEN GEIST TOT IST, SO IST AUCH DER GLAUBE TOT OHNE WERKE", sagt der jüngere Jakobus (2.26). Damit ist alles gesagt. Ich kann mich nicht mehr damit herausmogeln, ich hätte das nicht so richtig begriffen. Im Neuen Testament steht alles knallhart drin! Und der Pfarrer erklärt uns an Hand der übersetzten Texte die Botschaft der christlichen Nächstenliebe klar und deutlich. Ich verstehe es, obwohl er Spanisch spricht. Und ich spüre eine Differenz zwischen dem, was ich bisher gelebt habe und dem, was ich zukünftig leben soll /will.
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